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Timm Ulrichs
Ein großer Solist wird achtzig
Eine Hommage anlässlich der Verleihung des Käthe-Kollwitz-Preises 2020
denk-spiel
(nach descartes)
ich denke, also bin ich.
ich bin, also denke ich.
ich bin also, denke ich.
ich denke also: bin ich?
timm ulrichs
Auf der Bühne der Kunst steht ein großer Solist – ein kühner Denker, ein gewitzter Erfinder, ein geistreicher Weltverbesserer. Humorvoll, scharfzüngig, unbequem und querköpfig wie eh und je. Timm Ulrichs ist zweifelsfrei einer der bedeutendsten deutschen Künstler der Gegenwart. Und einer der produktivsten. In den vergangenen sechs Jahrzehnten hat er ein schier unüberschaubares transkulturelles OEuvre geschaffen, für das er am 23. Januar 2020 in Berlin mit dem Käthe-Kollwitz-Preis, einem der renommiertesten Kunstpreise Europas, ausgezeichnet wurde. Am 31. März 2020 feiert Timm Ulrichs seinen 80. Geburtstag. Gründe genug, um den Menschen, den Künstler und das Gesamtkunstwerk Timm Ulrichs zu würdigen: Eine Hommage entlang authentischer Lebens- bzw. Kunstäußerungen.*
„Ich, das perfekte lebende Gesamtkunstwerk“
„1940 hat mich in Berlin das Licht der Welt erblickt (…) Nach ein paar Tagen wurde ich aus dem Krankenhaus Waldfriede entlassen. Mit meiner Mutter“, so leitet Timm Ulrichs seine Dankesrede anlässlich der Preisverleihung in Berlin ein und beschreibt damit auch den Beginn seines Künstlerlebens in den dunklen Zeiten des Zweiten Weltkriegs. Aus Berlin vertrieben, wächst er in Prenzlau, Wildeshausen und Bremen auf und interessiert sich früh für die avantgardistischen Strömungen der Moderne, den Dadaismus, Surrealismus und Konstruktivismus. Später wird er sagen, dass zwei Seelen in seiner Brust leben – eine dadaistische und eine konstruktivistische. Der junge Ulrichs ist fasziniert von „den wüsten Typen der Kunst“. Er liest ihre Biografien, auch jene von Charly Chaplin, und denkt, „so ein Rabauke will ich auch werden“. Seine Mutter wollte er mit seinem Berufswunsch nicht enttäuschen. „Da muss man sich schon etwas kleiner machen und sagen, was man studieren möchte.“ 1959 absolviert Timm Ulrichs rechtschaffen das Abitur. „Die einzige Prüfung, die ich in meinem Leben je gemacht habe. Ich habe weder einen Führerschein noch habe ich mich freigeschwommen (…) Nach dem Abitur kommt unweigerlich die Frage: Was willst Du werden? Da kann man nicht sagen, ich bin doch schon was. Ich bin ein Mensch!“
„In Hannover steigt man nicht aus. Sondern um.“
Timm Ulrichs ist 1959 in Hannover ausgestiegen, um hier Architektur zu studieren. Seither ist die niedersächsische Landeshauptstadt zu seinem Lebens- und Arbeitsmittelpunkt geworden. Mit seiner Berufung an die Kunstakademie in Münster gewann Timm Ulrichs ab 1972 einen zweiten Standort hinzu. Seit seiner Eheschließung mit Ursula Neugebauer hat sich im Jahr 2008 seine Geburtsstadt Berlin als drittes Domizil beigesellt. Dank seiner Bahncard 100 pendelt Timm Ulrichs mühelos zwischen diesen Orten und seinen anderen Verpflichtungen hin und her. Am produktivsten ist er an seinem Hauptwohnsitz Hannover, denn „die Stadt ist so langweilig und öde, da muss man zum Alleinunterhalter in eigener Sache werden, um einigermaßen amüsiert zu sein“. Als würdiger Dada-Erbe gründete er mit 21 Jahren in der Schwitters-Stadt die „Werbezentrale für Totalkunst, Banalismus und Extemporismus“ mit „Zimmer-Galerie und Zimmer-Theater“, die bis heute das Fundament seines vielfältigen Wirkens darstellt. „Hier bin ich lebendig eingemauert mit allen unverkäuflichen und unverkauften Werken, die ich bei dieser Gelegenheit gerne allen Berliner Museen andienen möchte“, so der Preisträger. Mit Hannover verbindet ihn „eine Hassliebe oder ein Liebeshass“ und er fragt sich: „Was lässt mich immer wieder, zumeist bei einbrechender Dunkelheit, in diese Stadt meiner größeren Niederlagen und kleineren Siege zurückschleichen? (…) Denn mit Hannover verbindet mich nur Fernweh, kein Heimweh.“
„Wohn-Haft in Hannover. (Lebend komme ich hier nicht mehr heraus.)“
Sein Architekturstudium hat Timm Ulrichs 1966 abgebrochen, um als freier Künstler zu arbeiten – „frei von Geld, frei von Erfolg und frei von weiteren (positiven) Aussichten“. Dass Ulrichs diese Freiheit positiv genutzt hat, davon zeugen Ehrbekundungen, wie sie zu Jubiläen und runden Geburtstagen gerne deklamiert werden: „Seit fünfzig Jahren geht nichts ohne Timm Ulrichs in Hannover“, schrieb Ulrich Krempel vor zehn Jahren. „Wie kein anderer“, so Ministerpräsident Stephan Weil im Katalog anlässlich des 75. Geburtstags von Timm Ulrichs, „hat er die niedersächsische Kunstszene über viele Jahrzehnte hinweg geprägt.“ Daher verwundert es, dass unter den mehr als 200 Skulpturen im öffentlichen Raum der Stadt Hannover von Timm Ulrichs nur das „Kopf-Stein-Pflaster“ zu finden ist. Auch in den musealen Sammlungen des Landes ist der Künstler nur deshalb in größerem Umfang vertreten, weil er dem Sprengel Museum im Jahr 2002 sein gesamtes druckgrafisches Werk als Schenkung übergeben hat. Timm Ulrichs verbirgt seine Enttäuschung über die Geringschätzung der in Hannover ansässigen Künstler im Allgemeinen und der seinen im Besonderen nicht. Der städtischen Kunstkommission hat er daher einst verboten, „ihn eines Tages als einen ihrer großen Künstlersöhne zu feiern“. Hier wird „mir Schwitters ständig vorgehalten, früher als Tadel, heutzutage als Lob“. Dennoch, so stellt er ernüchtert fest: „Den Schwitters-Preis wird ohnehin niemals ein Lokalmatador wie ich erhalten. Da ist Hannover zu kleinkariert.“ Ulrichs ist zudem gewiss, dass nach den heutigen Gepflogenheiten selbst ein großer Künstler wie Schwitters den Kurt-Schwitters-Preis nicht erhalten würde. Er wäre wie Timm Ulrichs ein Prophet im eigenen Land.
„Ich habe mir immer eine unstillbare Neugier bewahrt, die als Haltung typisch ist für einen Autodidakten.“
Timm Ulrichs ist davon überzeugt: „Alles, was im Leben wichtig ist, eignet man sich autodidaktisch an. Die unwichtigen Dinge lernt man. Wie man lebt oder wie man liebt, das bekommt man auf keiner institutionalisierten Schule des Lebens gelehrt, das bringt man sich alles selber bei.“ Wann man allerdings Maler, Zeichner oder Filmer werden will, kann man sich zum Fachmann ausbilden lassen. Schon früh hat Timm Ulrichs mit den Routinen des Alltäglichen und den Pflichten unserer gesellschaftlichen Realität gebrochen. Er wollte sich nie kategorisieren lassen, wollte nie ein Kleinmeister in nur einer Disziplin werden, er wollte die Totalität erfassen und alle künstlerischen Möglichkeitsformen für sich reklamieren. Daher hat er den Begriff der „Totalkunst“ ins Leben gesetzt und sich selbst als Versuchsperson herangezogen.
„Man ist der Zeit nie voraus. Die anderen hinken eher hinterher.“
Totalkunst bedeutet für das Allround-Genie Ulrichs, nicht nur alle künstlerischen Disziplinen und Techniken in Anspruch zu nehmen, sondern auch in jede Richtung zu denken und die unterschiedlichsten Themen zu berühren. Schon als junger Mann hatte er sich „in den Kopf gesetzt, nur große Schritte, große Sprünge zu machen und nicht dem schon Vorhandenen bloß kleine Fußnoten anzuhängen“. Er fordert „originelle statt originaler Kunst“ und widersetzt sich damit nicht nur den Strategien des Kunstmarkts, sondern auch der Gunst der Museen und Sammler, die an Originalen und an Exklusivem interessiert sind. „Ich möchte Exklusivität nicht im Materiellen, sondern im Geistigen“, entgegnet der Künstler, denn für ihn besitzt nicht die Einzigartigkeit eines Artefakts künstlerischen Wert, sondern die Erfindungshöhe der dahinterliegenden Idee.
„Meine Repertoires und Themen wechsle ich öfter als mein Hemd“.
Timm Ulrichs ist kein Sklave eines frühen Einfalls, den er bis an sein Lebensende durchexerziert. Er verachtet eingeübte und wiedererkennbare Gesten, die nur variiert werden. Das unterscheidet ihn von so manchen international gefeierten und wirtschaftlich erfolgreichen Künstlern. „Manche finden als blindes Huhn ein Korn und picken ein Leben lang darauf herum.“ Timm Ulrichs hat sich bewusst gegen eine eindeutige Handschrift und ein künstlerisches Markenzeichen entschieden. Aus Neugier und Entdeckerfreude pflegt er einen „Stil der Stillosigkeit“, aber auch „aus mangelnder Frustrationstoleranz“. Es gibt keine Idee, die Timm Ulrichs zweimal realisiert hätte. „Ich habe mich nie als Marktlieferanten verstanden, sondern immer als Forscher. Es gibt von Man Ray den schönen Satz: ‚Erfinden ist göttlich, multiplizieren ist menschlich’.“
„Ich bin einer, der sein Atelier auf den Schultern trägt,
mein Kopf ist der Raum, in dem ich hauptsächlich tätig bin“, so Ulrichs, der Kunst zunächst als intellektuellen Akt konzipiert und anschließend von Handwerkern und Fachleuten zur Ausführung bringen lässt. Das ist auch der Grund für die zahlreichen Mehrfach-Datierungen seiner Arbeiten, die einerseits Hinweise auf das Jahr der Idee und andererseits auf die oft späteren Realisierungen geben. Timm Ulrichs stürzt sich gerne in Abenteuer des Denkens, „denn äußerliche Abenteuer habe ich wenig auf mich genommen. Diese Abenteuer des Denkens führen oft in Sackgassen, manchmal aber auch zu Denkergebnissen, die andere noch nicht gehabt haben. Bringt man das in die richtige Form, kann man das Kunst nennen“.
„Ich bin kein Seismograph. Seismographen reagieren nur. Ich will das Erdbeben sein, auf das andere dann reagieren.“
Nur allzu oft reagieren andere auf sein Werk. Das ärgert den Künstler vor allem dann, wenn die Epigonen mit seinen Ideen reüssieren und institutionellen Erfolg ernten. In solchen Fällen ist Ulrichs gern ein streitbarer Zeitgenosse, der auf sein Recht pocht. Mit dem Hinweis auf ein Plagiat von Jeppe Hein („Rotating Mirror Circle“, 2008) sagt er: „Ich habe in meine ‚Speisung der Fünftausend’ schon genug investiert, irgendwann muss aber mal Schluss sein. Irgendwann muss doch auch mal für mich was abfallen.“ Peter Weibel identifiziert das Kernproblem von Timm Ulrichs darin, dass er viele Ideen zu früh entwickelt hat und der Kunstbetrieb dafür noch nicht reif war. Zudem attestiert Weibel dem Künstler, ein Erzeuger prägender Schemata zu sein. Nur wer neue künstlerische Schemata ersinnt und viele Nachahmer findet, ist ein großer Künstler. Die Vielzahl der Epigonen, die sich aus dem Ulrichs’schen Fundus bedienen, sind Triumph, aber auch Tragik, denn sie trüben und verstellen die Sicht auf den Urheber. „Aber gerade deswegen ist er einer der größten und prototypischsten Künstler des 20. Jahrhunderts.“
„50 Jahre zweite Liga. Immer spielte ich auf matschigen Plätzen, vor wenig Publikum und für wenig Geld.“
Aus Anlass der Preisverleihung war der Saal der Akademie der Künste übervoll. „Leider haben die Veranstalter nicht damit gerechnet, dass auch Künstler der zweiten und dritten Liga große Fanclubs haben“, so Ulrichs bei seiner Dankesrede. Viele Gäste mussten sich mit Stehplätzen begnügen, was immerhin die Standing Ovations erleichterte, die Peter Weibel am Schluss seiner Laudatio einforderte. Die Verleihung des Käthe-Kollwitz-Preises für sein Lebenswerk zeigt, dass Timm Ulrichs schon immer ein Künstler der obersten Liga war. Die Jury-Begründung lautet: „Die Jury sieht eine absolute Notwendigkeit darin, den Käthe-Kollwitz-Preis an einen Totalkünstler wie Timm Ulrichs zu überreichen, dessen Ideenreichtum damit eine längst überfällige Würdigung erfährt. Ulrichs ist Künstler, ehemaliger engagierter Hochschullehrer und kritischer Beobachter der Szene, der eine unangepasste Existenz jenseits von Mainstream und Kunstmarkt führt. Sein politisches Agieren dient einer jüngeren Generation als Vorbild.“ „Ich nehme den Preis als den wichtigsten meines Lebens“, sagt der Künstler, (…) „er ist zwar nicht hoch, aber immerhin fünfstellig.“
* Die im Text verwendeten Zitate des sprachgewaltigen Künstlers entstammen größtenteils Timm Ulrichs’ Dankesrede aus Anlass der Preisverleihung am 24.1.2020 und dem Pressegespräch am 23.1.2020 in der Akademie der Künste Berlin.
Gerda Ridler [ Januar 2020 ]
Dieser Text entstand im Auftrag des Kunstvereins Hannover